Wie findet die Sexualerziehung an Jenaer Schulen in der Regel statt und was muss sich daran ändern?

Hier können wir natürlich nur von unserer Arbeit sprechen. Was sonst in Schulen noch geleistet wird, können wir nicht umfassend einschätzen. Grundsätzlich ist Sexualaufklärung in den Lehrplänen der verschiedenen Schulformen vom Bildungsministerium festgeschrieben und fester Bestandteil. Unser Angebot der sexuellen Bildung ist hauptsächlich ein erweitertes und ergänzendes Angebot. Kinder und Jugendliche haben je nach Alter Raum und Zeit sich intensiver mit Themen zu beschäftigen sowie Fragen an externe Expert*innen stellen zu können, die sie nicht in der nächsten Stunde benoten. In vielen Schulen leisten die Pädagog*innen vor Ort umfassende Aufklärung, in anderen Schulen hemmen eigene Berührungsängste mit den Themen. Viele Schulen haben das Thema gut im Blick und immer wieder können wir im Verein den Anfragen nicht voll umfänglich gerecht werden oder müssen leider ganz absagen, da uns die personellen und zeitlichen Kapazitäten fehlen.

 

Was sollte Sexualerziehung an Schulen leisten?

Sexuelle Bildung sollte dazu beitragen, dass alle Kinder und Jugendlichen auf dem gleichen Wissensstand bzgl. Ihrer Körperlichkeit sind, dass sie eine Sprache und Worte finden für ihre Körperlichkeit. Darüber hinaus sollten die Wahrnehmung von eigenen Gefühlen, den eigenen Grenzen und denen anderer Inhalt sein, sowie über Rechte aufgeklärt werden, Zeit für eigene Fragen sein und auch Raum, über medial verbreitete Inhalte zu sprechen, immer altersgerecht und sensibel für die jeweilige Gruppe.

 

Welchen Teil tragen Eltern und andere Kontexte dazu bei?

Für die meisten Kinder und Jugendlichen sind die Mütter nach wie vor Hauptansprechperson in allen Bereichen. Viele fragen auch Freund/in oder große Schwester, wenn sie über die Themen rund um Sexualität sprechen wollen. Viele kennen sexualisierte Inhalte aus dem Internet, wissen aber meist, dass das Internet als Aufklärungsmedium nicht immer geeignet ist.

 

Was bedeutet „geschlechtersensible Sexualerziehung“?

Geschlechtersensibiltät bedeutet, Kinder und Jugendliche in ihrer Geschlechtlichkeit wahrzunehmen ohne sie darauf zu reduzieren. Zu wissen, dass junge Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit unterschiedlich aufwachsen, wahrgenommen werden, verschiedene Erfahrungen machen, zum Teil Benachteiligungen erfahren, (Vor-)Urteilen begegnen. Es ist eher ein Wissen über diese Zusammenhänge und eine respektvolle, sensible Haltung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen.

 

Wann sollte man Ihrer Erfahrung nach mit Kindern über Sexualität sprechen und warum? Mit welchen Altersklassen arbeiten Sie?

Wenn von sexueller Bildung gesprochen wird, beinhaltet das eine Vielzahl an Inhalten und Themen. Ganz allgemein könnte man als Ziel von Sexualaufklärung, Sexualerziehung oder sexueller Bildung die Liebe zu sich selbst benennen, für sich sorgen zu lernen, sich zu kennen und andere sowie deren Grenzen nicht zu verletzen. Damit ist sexuelle Bildung ein lebenslanger Prozess und Weg und hat in jedem Alter ihre eigenen Themen. Es geht um Gefühle, Körper, Berührungen, Wissen um körperliche Vorgänge, Wissen um die Veränderungen in der Pubertät, davor, aber auch danach, Wissen um gesetzliche Rechte, Verhütungsmethoden, Auseinandersetzung mit Themen wie Liebe, Beziehungen, Rollenbilder usw. usf. Während es schon im Vorschul- und Grundschulbereich wichtig ist, eigene Gefühle und seine Körperteile benennen zu können, so ist es im Jugendalter wichtig, über Verhütung aufgeklärt zu sein oder auch über Ängste in Bezug auf sexuelle Erfahrungen sowie über Beziehungsvorstellungen sprechen zu können.

Kinder und Jugendliche sollten darüber hinaus immer Antworten auf ihre Fragen erhalten. Wenn sie Fragen stellen, ist es Zeit für Antworten. Und junge Menschen sollten aufgeklärt sein, bevor Entwicklungsschritte anstehen (bspw. sollte ich wissen, dass ich irgendwann meine Menstruation bekomme und nicht davon „überrascht“ werden…)

Wir arbeiten altersangemessen und geschlechtersensibel mit Schüler*innen aus 4. Klassen bis ins frühe Erwachsenenalter.

 

Mädchen tragen rosa. Jungs spielen mit Autos. Solche platten Geschlechterklischees werden Kindern durch Werbung, Medien und Produkte nahegelegt, wie versuchen Sie, dem entgegenzuwirken?

Wenn diese Themen auftauchen, sind diese bei Kindern und Jugendlichen oft relativ schnell mit Rückfragen, ob das bei allen so ist, ob alle Jungs oder Mädchen, die man kennt dies oder jenes machen, zu besprechen und meist ist dann schnell der Blick erweitert.

Zum Teil sind die medial vermittelten Klischees aber sehr tief verinnerlicht und identitätsstiftend.

 

Ihr verwendet ein Sternchen hinter „Mädchen“ und „Jungen“ – wen inkludiert das Sternchen, der in „Junge“ und „Mädchen“ nicht inkludiert ist? Inwiefern stößt das Gendern bei Kindern auf Unverständnis, inwiefern ist es hilfreich?

Das Sternchen steht in erster Linie dafür, dass „Mädchen“ und „Junge“ keine starre Kategorie sind, sondern Begriffe, die eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit vereinen. Darüber hinaus bezieht es auch Inter- und Transmenschen mit ein. Da wir „Gendern“ nicht vordergründig zum Thema machen, werden manchmal Nachfragen gestellt, was das Sternchen bedeutet, dann erklären wir das ähnlich. Und junge Menschen, die sich nicht in den Kategorien „Junge“ und „Mädchen“ verorten können, aus welchen Gründen auch immer, fühlen sich mitgemeint oder mitgedacht.

 

Wie kann man sich Ihre Sexualerziehungsstunden vorstellen? Sprechen Sie mit Jungen* und Mädchen* getrennt voneinander?

Die Projektstunden sind so unterschiedlich wie die Kinder und Jugendlichen, die Schulformen und die jeweiligen Klassen. Manchmal sind wir für zwei Stunden zu einem Thema eingeladen, manchmal sind wir einen ganzen Projekttag vor Ort oder wir kommen nach ein paar Wochen noch einmal. Grundsätzlich fragen uns die Lehrer*innen oder andere Pädagog*innen aus den Schulen zu bestimmten Themen an, die sie für ihre Schüler*innen für wichtig empfinden. Daraufhin entwickeln wir unseren Projektplan. Wir gehen fast immer als gemischtgeschlechtliches Team in die Gruppen, stellen uns und unsere Arbeit insgesamt vor, erklären, was wir in der Projektzeit vorhaben, wofür wir eingeladen wurden und erläutern ein paar Rahmenbedingungen (u.a. den vertraulichen Umgang mit persönlichen Informationen, Freiwilligkeit – jede/jeder achtet auf die eigenen Grenzen, jede*r spricht nur von sich…). Dann gibt es ein gemeinsames WarmUp als Einstieg ins jeweilige Thema. Oft gibt es Einheiten, in denen die Gruppen nach Mädchen* und Jungen* getrennt werden, bspw. wenn es um die körperliche Entwicklung geht oder spezifische Fragen. Häufig wünschen sich die Gruppen auch selbst eine Trennung. Einige Themen können dort weniger schambehaftet besprochen werden. Wichtig ist es uns aber auch, dass wir die Gruppen wieder zusammenführen und sich über Themen gemeinsam ausgetauscht wird (bspw. Liebe, Beziehungen, Verhütung…).

 

Mit welchen Fragen und Unklarheiten kommen die Kinder auf Sie zu? Ist es möglich trotz Scham darüber zu reden?

Die Schüler*innen kommen mit allen denkbaren Fragen auf uns zu, die man sich zu den jeweiligen Themengebieten und Altersstufen vorstellen kann, von „woran merke ich, dass der/die andere auch in mich verliebt ist“ bis hin zu sehr persönlichen Fragen, ob das eine oder andere, was sie an sich beobachten normal/ in Ordnung ist.

Unsere Erfahrung ist, wenn man einen guten Einstieg schafft in der Vorstellung und eine wertschätzende, respektvolle Atmosphäre herstellt, dann ist die Offenheit in den Gruppen sehr groß und sie nehmen die Möglichkeit eigene Fragen zu stellen sehr gern an. Natürlich gibt es auch immer Kinder und Jugendliche, die von Themen nichts hören wollen – es steht jeder/jedem jederzeit frei aus den Projektstunden zu gehen oder sich zurückzunehmen. Oftmals kommen auch Einzelne in den Pausen oder am Ende, um Fragen im Einzelgespräch zu klären.

 

Über Geschlechtsteile zu reden, damit tun sich auch Erwachsene nicht leicht. Welches Vokabular geben Sie den Kindern mit auf den Weg?

Über Geschlechtsteile reden ist nicht primär unsere Aufgabe – das sollte zu Hause, in der Kita, Grundschule längst thematisiert werden, ist aber natürlich bei dem einen oder anderen Thema auch dabei. Hier sprechen wir die äußeren und inneren Geschlechtsorgane mit ihren medizinischen Fachbegriffen an, bspw. wenn es um die Erklärung der Menstruation geht oder Erektion – wir verwenden Paomi-Modelle, die sind für alle Altersstufen angemessen und auch für die Arbeit mit beeinträchtigten Kindern gut geeignet. Die medizinischen Begriffe zu hören und zu kennen ist wichtig, insbesondere wenn Kinder und Jugendliche (auch mit anderen Muttersprachen) aus Gründen einen Arzt/Ärztin aufsuchen müssen. Daneben geben wir den jungen Menschen auch mit, dass sie ihren intimen Bereich natürlich benennen können, wie sie es mögen. Viele Familien haben ihre eigenen Begriffe. Wichtig ist dabei aber auch, für sich zu lernen, welche Bezeichnungen man gar nicht mag, um sich auch in diesem Bereich abgrenzen zu können.

 

Inwiefern stehen geschlechtliches Selbstverständnis und ein aufgeklärter Umgang mit Sexualität für Sie in einem Zusammenhang?

Wenn ich mich und meinen Körper in seiner Geschlechtlichkeit gut kenne, annehmen kann, mich und meinen Körper wertschätze, dann kann ich eine selbstbestimmte Sexualität leben, die mir und meinem Körper gerecht wird und nicht schadet (vielleicht entscheide ich mich dann auch gar keine Sexualität zu leben) und die auch andere Körperlichkeiten und Geschlechtlichkeiten respektiert. Wenn ich um Sexualität in seiner Komplexität weiß (Küssen, Berührungen, liebevolle Zuwendung…), in der der „klassische Geschlechtsverkehr“ nur einen Teil bildet, wenn ich meine Gefühle wahrnehmen und ernstnehmen kann, wenn ich weiß, wo meine Grenzen sind bzw. wie ich sie erkenne und erspüre, wenn ich weiß, was erlaubt oder was auch verboten ist, dann kann ich eher eine selbstbestimmte Sexualität leben.

 

Wie wird Ihr Angebot von den Schüler*innen aufgenommen? Welche Rückmeldungen/negativen und positiven Erfahrungen gab es von/mit Lehrer*innen und Eltern?

Die Schüler*innen geben uns meist am Ende der Veranstaltungen eine Rückmeldung, viele bedanken sich, manche wünschen sich, dass wir bitte noch mal wieder kommen sollen, andere sagen, sie hätten vorher schon alles gewusst und nichts Neues gelernt, Einzelne haben sich nicht wohlgefühlt, trotzdem zugehört. Die Lehrer*innen geben uns später meist noch einmal ein positives Feedback aus den Gruppen und bedanken sich für das Angebot. Der größte Indikator für die gute Zusammenarbeit und Zufriedenheit sind die über Jahre gewachsenen Anfragen und Bedarfe von Schulen, die uns immer wieder auch schon sehr langfristig einladen und anfragen oder Schulen, die uns auf Empfehlung neu einladen. Von Eltern bekommen wir keine Rückmeldungen, wahrscheinlich fängt das die Schule ab, wenn es welche gibt. Wir geben in den meisten Fällen auch Elternbriefe im Vorfeld unseres Besuches in den Klassen raus, damit die Eltern transparent informiert sind, mit dem Angebot sich bei uns auch melden zu können, wenn sie Fragen haben. Das ist in den vielen Jahren 3/4 mal vorgekommen.